Als das Kombinat am 1. Juli 1990 – dem Tag der Wirtschafts- und Währungsunion – aufgelöst wurde, blieb die Treuhand ein Konzept für die Industrieforschung schuldig. Sie verfügte: Schließung dieses Geschäftsbereichs Ende 1992. Doch so leicht wollten sich der vormalige Institutsleiter Dr. Horst Bürger und seine wichtigsten Experten nicht geschlagen geben. Sie initiierten das erste privatrechtliche, gemeinnützige Forschungsinstitut im wiedergegründeten Freistaat Thüringen. Mit einer Mannschaft aus 55 Wissenschaftlern, Laboranten und Facharbeitern im Rücken. Und einer klaren Vorstellung von einem neuen strategischen Profil: Der zu DDR-Zeiten recht enge Fokus auf Chemiefasern und deren Verarbeitung auf den klassischen Gebieten Spinnerei, Weberei, Wirkerei/Strickerei, Veredelung und Konfektion muss dringend erweitert werden. Das Ziel: auf Basis eines „wissenschaftlich und wirtschaftlich überzeugenden Konzeptes“ sämtliche Möglichkeiten „neuer organischer Konstruktions- und Funktionswerkstoffe“ ergründen.
Am 4. Oktober 1991 hoben 23 Gründungsmitglieder – darunter Unternehmen und Institutionen aus dem Westen Deutschlands und sogar den USA und Japan – den Verein „Thüringisches Institut für Textil- und Kunststoff-Forschung Rudolstadt e.V.“ (TITK) aus der Taufe. Ein schon damals ausgerufenes Arbeitsprinzip gilt noch immer: Die Erfordernisse des Marktes müssen der rote Faden sein, bei jeder Neuentwicklung ist die wirtschaftliche Relevanz früh auszuloten. Darauf schwört auch Institutsdirektor Benjamin Redlingshöfer, der 2017 in die Fußstapfen von TITK-Gründervater Dr. Horst Bürger und dessen Nachfolger Dr. Ralf-Uwe Bauer trat. „Wenn wir Polymerwerkstoffe für unzählige Anwendungsfelder entwickeln, tun wir dies nicht zum Selbstzweck. Wir liefern Innovationen, die unseren Kunden einen Wettbewerbsvorteil verschaffen“, sagt Redlingshöfer. Er sieht dies als vielleicht wichtigstes Erbe der damaligen Neuausrichtung: dass man als wirtschaftsnahes Forschungsinstitut – zumal nicht grundfinanziert – nur dann langfristig erfolgreich sein kann, „wenn unsere Neuentwicklungen einen wirtschaftlichen Mehrwert entfalten.“
Mit dem Anspruch der ersten Stunde - „durch Kreativität, Initiative und Leistung überzeugen“ - hat sich das TITK längst vom reinen Materialforschungsinstitut zum System- und Lösungsanbieter für Zukunftstechnologien entwickelt. Jahr für Jahr bearbeiten 140 Wissenschaftler, Techniker und Laboranten bis zu 70 Projekte in den Bereichen Native Polymere und Chemische Forschung, Textil- und Werkstoff-Forschung, Kunststoff-Forschung sowie Funktionspolymersysteme und physikalische Forschung. Namhafte Firmen aus aller Welt vertrauen ihrer Expertise. Etwa Autobauer BMW, für dessen Elektrofahrzeuge Bauteile aus Carbon-, Natur- und Recyclingfasern mit TITK-Hilfe entstanden sind. Oder die finnische Metsä Group, die sich für holzbasierte Textilfasern fachliches Know-how aus Rudolstadt sicherte. Bis hin zum US-amerikanischen Unternehmen Bolt Threads, das mit dem TITK ein proteinbasiertes Material erschuf, um es in einem komplett bioabbaubaren Tenniskleid von Adidas und Designerin Stella McCartney zu verwenden.
Forschungsleistungen aus dem TITK sind mehrfach preisgekrönt. Jüngste Beispiele sind die flexible, metallfreie Heizfolie mit integriertem Überhitzungsschutz und der biobasierte und bioabbaubare Schmelzklebstoff für Verpackungslösungen. Für eine Technologie, die temperaturregulierende Bekleidung ermöglicht, gab es schon vor Jahren den Thüringer Forschungspreis. Basis hierfür war das am TITK entwickelte ALCERU-Verfahren, um Lyocellfasern mit Zusatzfunktionen auszurüsten. Mittlerweile existiert eine international beachtete Weiterentwicklung: Lyohemp, die erste Lyocellfaser, für die nicht Holz, sondern Hanf den Zellstoff liefert. Damit steht das TITK weiter in der über 80-jährigen Tradition der Celluloseforschung an Saale und Schwarza und stärkt zugleich das immer bedeutsamer werdende Prinzip der Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung.
30 Jahre TITK sind zweifellos eine Erfolgsgeschichte, die es sich zu erzählen lohnt. Natürlich sollte dies auf einer Festveranstaltung geschehen. Allein Corona machte einen Strich durch die Rechnung. Die Institutsleitung nimmt es sportlich und will nun das 33-Jährige gebührend feiern. Eine Idee mit Charme, denn 2024 wäre dann auch der erste Spatenstich von Hans Böhringer 70 Jahre her.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Wirtschaftsspiegel Thüringen.